Sonntag, 19. Oktober 2014

Tante Lotti

Im alten Ostpreußen hatte meine Oma schon die eine Freundin: Lotti. Sie gingen zusammen zur Schule, verloren sich im Krieg aus den Augen und fanden sich Jahre später wieder. Sie hielten immer engen Kontakt, sahen sich trotz 300 km Entfernung oft. Bis heute.


Für mich war die Freundin meiner Oma schon immer "Tante Lotti" - eine wunderbar niedliche Frau mit übergroßer Brille in hellbrauner Fassung, einem Hang zu Strickpullovern und Perlenketten und hellbraunem gelockten Haar. Eine Frau, die hellauf begeistert war, was die Supermärkte so zu bieten haben. In ihrem Dorf gab es bis vor kurzer Zeit lediglich eine Art Tante-Emma-Laden, weshalb sie viele Produkte also gar nicht kannte. Ihr Mann verstarb früh, sie selbst ist Mutter von drei Kindern und lebt in einem großen Einfamilienhaus mit eigenem Garten. Sie brachte immer selbst gemachte Marmelade, eingewecktes Kompott oder frisches Obst und Gemüse aus dem Garten mit. Sie spielt zu gern Halma, singt inbrünstig Heimatlieder und summt viertelstündlich Melodien, spielt leidenschaftlich Akkordeon, ist vielseitig in Vereinen aktiv und hält es für die beste Medizin, im Fall der Fälle auf nüchteren Magen einen klaren Schnaps zu trinken. Jedes zweite Wort von ihr ist 'herrlich' oder aber eine Abwandlung davon. Ich bin mir sicher, nie einen positiveren Menschen getroffen zu haben. Auch wenn sie etwas hinterweltlerisch lebt, so ist ihre Lebensfreude endlos ansteckend. Und damit übertreibe ich wahrlich nicht.


Vor knapp einem Jahr wurde bei ihr Brustkrebs festgestellt. Sie habe das schon lange bemerkt, wollte sich aber keiner Behandlung unterziehen. Ihre Reaktion nach der Diagnose hat mir imponiert - und mich zugleich beängstigt: Das wird schon wieder gut werden. Und wenn nicht... - sie hatte ein tolles Leben. Es wird schon alles richtig so sein.


Sie unterzog sich trotzdem der notwendigen Chemotherapie - und ließ sich nicht kleinkriegen. Es ging ihr gut. Sie freute sich so sehr auf das Ende der Behandlung, sodass sie wieder ihren Garten bewirtschaften konnte. Das ging nur kurze Zeit gut - eine Erkrankung des Magens erforderte eine OP. Seitdem ist diese unglaublich starke Frau in ihrer Lebensfreude getrübt. Körperlich ist sie so geschwächt, dass sie nun aus freien Stücken auf einen Platz im Altersheim wartet. Nunmehr kämpft sie auch mit Wasser in den Beinen. Und ob der Krebs komplett weg ist, weiß irgendwie auch niemand.


Über's Telefon versagt die Kraft ihrer Worte. Sie kann nichts mehr essen. Es schmeckt nichts mehr. Und sie hat überhaupt keine Lust mehr. Sie kann nur noch rumsitzen, hat keinen Elan.



War's das jetzt? Sagt man das nicht immer, dass es mit dieser Einstellung dann bald zuende geht? Meine Oma jedenfalls ist derzeit zutiefst betrübt. Sie wollten sich doch auch nochmal sehen. Ich hoffe, dass hier die Geschichte zu 'Tante Lotti' nicht zuende geht. Und ich weiß auch nicht, was gut ist, aber ich wünsche der mittlerweile 87-jährigen Lotti, dass es ihr gut geht - wie auch immer das ist. Und beiden wünsche ich, dass sie sich nochmal sehen - was allerdings bedeutet, dass ich meine Oma hinfahre. Aber ich, ich möchte die Tante Lotti in lebensfroher Erinnerung behalten. Als Vorbild.


1 Kommentar:

Ich freue mich über jedes Wort.