Ein großer Mann mit halbseitig gelähmten Gesicht. Mit ständig tränendem Auge. Eine Mannesstatue. Stets mit Hemd und meist mit Zigarette. Er, der Kranfahrer. Der, der sein Ausliegen liebte - um unter Menschen zu sein.
Wenn er draußen stand, nahezu versteinert, und rauchte, schlängelten die Katzen um seine Beine - während ich stets vergeblich versuchte, mich den Katzen zu nähern. Sein liebevolles Herz haben die Katzen erkannt.
Ich kenne ihn nur alleinlebend, ohne Frau. Ohne Kinder.
Die Einsamkeit war auf dem Dorf sicher erträglicher. Dank der Gemeinschaft.
Mit meinem Umzug in die Stadt musste er irgendwann mit. Dort vereinsamte er zunehmend.
Heute.
Das Haar wirr und meist ungewaschen. Die Fingernägel länger als die einer Frau. Meist trägt er das gleiche Hemd. Das Gesicht: halbseitig erschlafft. Das Auge tränt. Mehr denn je. Er trägt noch immer Hemden. Doch die vertuschen nur sein Gerippe. Die Hosen viel zu weit. Keine Spur von dem einstigen Manne. Er zittert, sobald er die Hand reicht. Er kann kaum einen Stift halten. Er war seit seinem Umzug vor 20 Jahren nicht einmal beim Arzt.
Er lebt allein. Sauberkeit ist ihm nicht wichtig. Auch Hygiene nicht. Noch immer steht die Anrichte aus den 50er Jahren in seinem Wohnzimmer. Noch immer nutzt er das gleichalte Geschirr. Er braucht nichts Neues. Er will nichts Neues. Das ist sein Festhalten an seiner Zeit. Derjenigen, in der er vermeintlich glücklich schien. Frei, arbeitend, gesellig - auf dem Land. Heute besteht sein Leben aus dem Plattenbau, 100m-Einkaufstouren und dem Fernsehprogramm. Und den Besuchen von mir und meinem Kind.
Meine Oma sieht er nicht so gern. Meine Mutter schon gar nicht.
Heute. Heute ist er 80. Mein Großonkel.
Seinen Geburtstag feierten wir zu viert bei meiner Oma. Es klingelte. Am Telefon eine Frau, die nach ihm verlangte. Und er telefonierte. Das erste Mal, seit rund 20 Jahren.
Einige Tage später besuchte ich ihn. Auf dem Tisch lauter Bilder einer jungen, hübschen Frau.
"Schau. Das ist sie. Die hat mich angerufen. Das war mal meine Freundin. Wir haben uns damals in L. auf einer Hochzeit kennengelernt. Sie war 15 Jahre jünger als ich. Wir schrieben uns regelmäßig."
"Aber...?"
"Sie hat irgendwann nicht mehr geantwortet. Ich habe das hinnehmen müssen. Nun fand sie im Nachlass ihrer Mutter meine Briefe. Sie dachte, ich hätte ihr nicht mehr geschrieben, hätte kein Interesse mehr an ihr. Doch war es ihre Mutter, die uns nicht dulden wollte. Sie hat mich dann über deine Oma ausfindig machen können."
"Schön! Ist sie verheiratet?"
"Sie war kurzzeitig verheiratet, hat mich aber nie vergessen können."
Stille.
"Ich sie auch nicht."
"Na ist doch toll, dass sie sich nun meldet!"
"Ja. - Leider zu spät."
Und er senkte den Kopf.
"Ich war kalt. Ohne Heimat. Und alleine. Nur einer dieser Steine."